180/2024 | Miteinander Füreinander: ein Zeitvorsorgesystem für Stuttgart

Begründung:

Der demografische Wandel und der steigende Anteil älterer Menschen in der Gesamtbevölkerung stellen Vorsorge- und Pflegeeinrichtungen vor große Herausforderungen. Allein in Baden-Württemberg fehlen bis 2040 rund 24.000 zusätzliche Pflegefachkräfte in Vollzeit. Dazu sind die durchschnittlichen Pflegeheimkosten nicht zuletzt aufgrund der Inflation stark gestiegen und fallen in Stuttgart im Bundesvergleich besonders hoch aus (1, 2).

Hinzu kommt ein gesamtgesellschaftliches Problem: Immer mehr Menschen leiden unter Einsamkeit, zu der am meisten betroffenen Gruppe gehören insbesondere auch sozial isolierte ältere Menschen. Das bestätigt eine Umfrage des Statistischen Amtes der Landeshauptstadt Stuttgart aus dem Jahre 2022 (3). In Stuttgart leben derzeit rund 45.000 Menschen ab 60 Jahren alleine. Die Stadt Stuttgart wirkt Einsamkeit bereits mit vielfältigen Angeboten, Kampagnen und Schulungen entgegen. Dennoch sollten weitere Maßnahmen zur Bewältigung dieser großen gesellschaftlichen Herausforderung erprobt und ergriffen werden.

Die Stadt St. Gallen hält diesen Entwicklungen einen innovativen Lösungsansatz entgegen: Seit 2012 bringt ein Zeitvorsorgesystem betreuungsbedürftige und vorsorgende Menschen der dritten und vierten Lebensphase zusammen. Menschen ab 50 Jahren sind dabei als Zeitvorsorger*innen tätig und leisten Senior*innen im fortgeschrittenen Alter Gesellschaft. Die erbrachte Zeit wird den Vorsorger*innen als zeitliche Gutschrift für die eigenen Betreuungsbedürfnisse in späteren Jahren angerechnet. Das Ansparvolumen für Vorsorgende ist auf 750 Stunden limitiert, zusätzliche Hilfestunden landen in einem Sozialfonds. Die Leistungen ersetzten keine professionelle Pflege, es werden lediglich kleinere Beihilfen etwa beim Einkaufen oder im Haushalt und beim Begleiten etwa zu Arztterminen geleistet. Im Vordergrund steht der gesellige Faktor: gemeinsames Kochen, Ausflüge, Lesestunden oder Spaziergänge zählen ebenso zu den erbrachten Leistungen.

Im St. Galler Zeitvorsorgesystem fungiert die Stadt als Trägerin, verwaltet wird das System über eine eigens dafür eingerichtete Stiftung, an der neben der Stadt und dem Amt für Soziales des Kantons auch lokale (Leistungserbringer)-Organisationen beteiligt sind. Nach einer erfolgreichen Pilotphase besteht das Zeitvorsorgesystem seit 2017 als eine reguläre Ergänzung zu den professionellen Pflege- und Betreuungsangeboten. Der Schlussbericht „Evaluation des St. Galler Zeitvorsorgemodells“ von 2017 belegt die vielen Vorteile des St. Galler Versuchs unter städtischer Trägerschaft (4). Im November 2022 wurde ein vergleichbares System in der Stadt Rapperswil-Jona eingeführt. Hier verwaltet die Stiftung RaJoVita die Zeitkonten. Seit 2024 erprobt auch die Stadt Gossau ein Zeitvorsorgesystem nach St. Galler Vorbild. Die Gesamtkosten für die geplante Zeitspanne von fünf Jahren sollen sich auf 227.000 CHF (ca. 232 TEUR) belaufen (5).

Durch die Zeitvorsorge konnte in St. Gallen eine hohe Wirkung im Bereich der Lebensqualität bei den Leistungsbeziehenden festgestellt werden. Die Versorgungssicherheit der Stadt wurde erhöht, da die Inanspruchnahme des professionellen Versorgungsangebots in manchen Fällen verzögert werden konnte. Pflegekräfte können sich besser auf ihre Fachtätigkeiten konzentrieren, da sie weniger Zeit für die sozialen Bedürfnisse mitbringen müssen. Pflegende Angehörige konnten ebenfalls entlastet werden.

Die Einkommensstärke betreuter Personen entfällt in einem solchen System als diskriminierender Faktor. Auch die Stadt spart: Laut Schätzung der St. Galler Stiftung Zeitvorsorge beträgt die Kostenersparnis für die Stadt pro betreute Person rund 30.000 CHF (ca. 30,6 TEUR) im Jahr (5).

Die Zeitvorsorge gliedere sich laut Evaluationsbericht gut in das bestehende Angebot an Freiwilligenarbeit ein. Durch das System falle es Leistungsbeziehenden leichter, Hilfe anzunehmen, da die Zeitvorsorgenden eine Gegenleistung erhielten. Der klare Leistungsauftrag schaffe klare Verhältnisse, was in einer reinen Freiwilligenarbeit nicht der Regelfall sei. In St. Gallen konnte sogar zusätzliche Freiwilligenarbeit über die Zeitvorsorge generiert werden – ein Drittel der Zeitvorsorgenden war zuvor weder formell noch informell freiwillig aktiv. Eine Auswertung des Bundesministeriums zeigt, dass sich ältere Menschen im Ehrenamt am häufigsten für Ältere engagieren (6). Das freiwillige Engagement im sozialen Bereich sei dabei von großer Bedeutung. Ehrenamtliche im hohen Alter stellen damit eine wichtige Ressource dar – ihre Bereitschaft für Engagement könnte durch ein Zeitvorsorgesystem besser genutzt werden.

Die Beteiligung der Stadt über die Trägerschaft gibt dem Projekte ein verbindliches Element. So bürgt die Kommune für die langfristige Einlösbarkeit der Zeitgutschriften z.B. bei einem vorzeitigen Abbruch des Projekts. Das verleiht dem Zeitvorsorgemodell die notwendige Seriosität und bietet den Vorsorgenden Sicherheit, was nicht zuletzt Beteiligungsanreize schafft.

Einsamkeit begegnen, soziale Netze stärken, das Pflegesystem entlasten: Die positiven Effekte eines Zeitvorsorgemodelles liegen auf der Hand. Weltweit haben sich lokalspezifische Modelle erprobt und verstetigt (s. Fureai Kippu in Japan oder die baden-württembergischen Seniorengenossenschaften). Diese Idee in ein kommunales, verbindliches System zu überführen bringt einer alternden Gesellschaft erhebliche Vorteile und reduziert akute Stressfaktoren im Pflegesystem.

Daher beantragen wir:

Die Verwaltung prüft die Umsetzbarkeit eines Zeitvorsorgesystems für Stuttgart mit wissenschaftlicher Begleitung und unter städtischer Trägerschaft nach St. Galler Vorbild und berichtet dazu bis Ende des Jahres 2024 im Sozial- und Gesundheitsausschuss.

Quellen:

(1) Pflegeheimkosten: Wo sind Pflegeheime am teuersten?, Stuttgarter Zeitung, 23.10.2023, https://www.stuttgarter-zeitung.de/sonderthemen/senioren-aktiv-vital-und-gut-betreut-52041/gesundheit/wo-sind- pflegeheime-am-teuersten-pflegeheimkosten-hoechsten-betreuungskosten-173787

(2) Ab Januar drastisch steigende Pflegeheimkosten, Stuttgarter Zeitung,03.12.2022

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-und-region-ab-januar-drastisch-steigende-pflegeheimkosten.3a be199c-2330-49b1-80b2-e68435ff6a74.html

(3) Einsam in Stuttgart: Für welchen Personenkreis trifft das zu?, Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt, Statistik und Informationsmanagement, Monatsheft 4/2022, https://www.domino1.stuttgart.de/web/komunis/komunissde.nsf/715a84c741dea0de412565f3003c484d/89f1f370 4aa0d22ac12588a10022d98f/$FILE/c7101_.PDF

(4) Evaluation des St. Galler Zeitvorsorgemodells, Schlussbericht, Amt für Gesellschaftsfragen St. Gallen, 2017,

https://www.zeitvorsorge.ch/pdf/1589904781_1589531345.pdf

(5) Stadt Gossau, Bericht und Antrag an das Parlament; Zeitgutschriftensystem, Stiftung Zeitvorsorge St. Gallen; Rahmenkredit; 08.06.2023, https://www.stadtgossau.ch/_docn/4567615/Zeitvorsorge_-_Bericht_und_Antrag.pdf

(6) Freiwilliges Engagement älterer Menschen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Vogel, Corinna Kausmann & Christine Hagen, 2017, https://www.bmfsfj.de/resource/blob/120222/fdd831b41b994b336f64409b2250acad/freiwilliges-engagement-von -aelteren-menschen-data.pdf)